Taiwan ist eine multiethnische Einwanderungsgesellschaft, in der sechzehn indigene Gruppen des austronesischen Sprachstamms etwa 2.52 % der Gesamtbevölkerung ausmachen. In den vergangenen Jahrhunderten haben Taiwans Ureinwohner mehrere fremde Herrschaften durchlebt und waren stets eine benachteiligte Gruppe in der Gesellschaft. Über lange Zeit wurden die Geschichte, das Wissen und die Kultur der Ureinwohner sowie anderer Han-Gruppen in den Schulen unter dem Einfluss dominanter Machthaber vermittelt. Dies hat auch die Authentizität der Repräsentation der indigenen Musikkultur in der schulischen Bildung erheblich beeinflusst.
Nach der Aufhebung des Kriegsrechts und dem Demokratisierungsprozess in Taiwan seit 1987 wurden Multikulturalismus, der Ausdruck ethnischer Unterschiede und die Entwicklung von Gemeinschaftsidentitäten zunehmend zu Hauptströmungen in der Kultur- und Bildungspolitik. Lokalregierungen, Schulen und Gemeinschaften begannen gemeinsam daran zu arbeiten, eine lokale kulturelle Identität zu etablieren, die zu einem wichtigen Bestandteil der schulischen Bildung wurde. Unter dieser Politik begannen die indigenen Gemeinschaften den Prozess der Erforschung der Fragen „Wer bin ich?“ und „Wer sind wir?“ und gestalteten ihre kulturelle Identität im Kontext der modernen Schulbildung neu.
„Gesang“ ist eine der am häufigsten genutzten Ausdrucksformen in kulturellen Aufführungen, was unter anderem daran liegt, dass „Gesang“ in vielen indigenen Gemeinschaften eine bedeutende Rolle im sozialen Leben spielt. Gesang ist oft ein wesentlicher Bestandteil wichtiger Rituale und Feste und dient als wichtiger kultureller Träger kollektiver Erinnerungen, Geschichte und Wissen.
sinbiyo sinbi 新美呀!新美
„sinbiyo sinbi“ – Lied von Uyongu Yatauyungana (高一生). Es ist ein Lied, das die Stammesangehörigen ermutigte, niederzulassen und in der Region Sinbi (新美) zu siedeln und dort ein neues Leben aufzubauen.
Seit langem liegt die Deutungshoheit über die Musikkultur der taiwanesischen Ureinwohner in den Händen der überwiegend Han-chinesischen Bevölkerung, was unvermeidlich zu Vorurteilen und Missverständnissen führte. Die Forschung der Referentin konzentriert sich nicht darauf, wie die dominante Gruppe die indigene Musikkultur interpretiert, sondern darauf, wie die Ureinwohner selbst aus einer „lokalen“ Perspektive ihre traditionellen Gesangspraktiken unter dem modernen Bildungssystem vorstellen und wiedergeben. Wie wird Musik geschaffen? Wie zeigen sie sich in verschiedenen musikalischen Darbietungen?
Im Vortrag werden folgende Fallbeispiele vorgestellt:
- Das Lied der Tsou-Gruppe von Herrn Uyongu Yatauyungana (高一生), einem Opfer des weißen Terrors, wird von seinem Sohn Yavai Yatauyongana (高英傑)an der Xinmei-Grundschule in der Gemeinde Alishan weitergegeben wird;
- Die Kinder der Atayal-Gruppe der Taoshan-Grundschule in Wufeng, Landkreis Hsinchu, die oft eingeladen wurde, die Nationalhymne bei den Nationalfeierlichkeiten anzustimmen und den 24. Golden Melody Award für traditionelle und künstlerische Musik in der Kategorie „Beste Interpretation traditioneller Musik“ in Taiwan gewonnen hat;
- Die traditionelle Weitergabe der alten Atayal-Lieder an der Huayuan Grundschule in Wufeng, Landkreis Hsinchu;
- Die Arbeit des Seediq-Bale-Filmberaters Weng Zhiwen bei der Weitergabe alter Lieder an der Truku Grundschule (ehemals Hezuo Grundschule) im Landkreis Nantou;
- Die Arbeit der bekannten Paiwan-Sängerin Sauljaljui (戴曉君) an der Shimen-Grundschule der Gemeinde Mudan im Landkreis Pingtung und beim Kapanan Musik- und Kulturfestival vorgestellt.
Die Vortragende
Pei-Shan Wu war Klavierlehrerin in Taiwan und begann vor etwa zehn Jahren Deutsch zu lernen. Mit dem Traum, Europa durch die deutsche Sprache zu erkunden und ihr Weltbild zu erweitern, kam sie nach Deutschland. Nach mehreren bedeutenden Begegnungen während ihrer Reise ließ sie sich schließlich als Doktorandin der Ethnomusikologie an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover nieder. In ihrer Doktorarbeit untersucht sie die Vorstellung und Umsetzung der traditionellen einheimischen Musikkultur Taiwans im Schulunterricht. Dabei behandelt sie Themen wie transformative Gerechtigkeit, die Erfindung von Traditionen, lokale kulturelle Identität sowie die Darstellung ethnischer traditioneller Musik.
Darüber hinaus setzt sie sich für die Anwendung der Musikethnologie ein und verbindet akademische Forschung und Feldstudien mit kultureller Praxis. Zwischen 2018 und 2020 war sie als Praktikantin und Kuratorin in einem Museum tätig, wo sie taiwanesische Gue̍h-khîm-Musik (月琴), Pak-kuán-Musik (北管), Schattenspiele sowie die Musik der Atayal-Gruppe in verschiedenen kulturellen Kontexten förderte. Zudem organisierte sie interkulturelle Austauschprojekte, darunter eine Zusammenarbeit zwischen der Anjing-Grundschule in Chiayi, Taiwan, und der Grundschule Moritzberg in Hildesheim, Deutschland. Gemeinsam realisierten sie das interkulturelle Schattenspiel „Die Schildkröte und der Hase“ (龜兔賽跑).
Veranstaltungsinformationen
Datum: 31. August 2024
Uhrzeit: 15:00 – 17:00 Uhr
Ort: Blaues Haus Bibliothek, Maschstr. 7, 30169 Hannover
Arbeitssprache: Chinesisch. Bei Bedarf steht ein Dolmetscher für die deutsche Sprache zur Verfügung.
Anmeldung:
Kostenloser Eintritt.
Anmeldung über QR-Code:
Hinweise:
- Teilnahme ab 14 Jahren möglich.
- Wenn Sie nach der Anmeldung kurzfristig nicht teilnehmen können, stornieren Sie bitte rechtzeitig Ihr Ticket, um anderen die Teilnahme zu ermöglichen.
- Erfolgreich angemeldete Teilnehmer sollten spätestens 5 Minuten vor Beginn des Vortrags anwesend sein.
- Aufzeichnungen sind nicht gestattet, wir danken für Ihr Verständnis.
- Es werden Fotos während der Veranstaltung aufgenommen, die intern von der Blaues Haus Stiftung verwendet werden. Falls Sie Einwände haben, teilen Sie dies bitte vorab in Ihrer Anmelde-E-Mail mit.
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